Charlotte Link
Die Täuschung
Bericht aus der Berliner Morgenpost vom 15. September 1999
Grausige Entdeckung in einer Mietwohnung in Berlin-Zehlendorf
Ein furchtbarer Anblick bot sich gestern einer Rentnerin, die den Hausmeister einer Wohnanlage in Berlin-Zehlendorf überredet hatte, ihr mit seinem Zweitschlüssel die Wohnung ihrer langjährigen Freundin Hilde R. zu öffnen. Die vierundsechzigjährige, alleinstehende Dame hatte sich seit Wochen nicht mehr bei Freunden und Bekannten gemeldet und auch auf Anrufe nicht reagiert. Nun wurde sie in ihrem Wohnzimmer entdeckt. Sie war mit einem Seil erwürgt worden; der Täter hatte ihre Kleidung mit einem Messer zerschlitzt. Sexuelle Motive liegen offenbar nicht vor, auch war nach Angaben der Polizei kein Diebstahl nachzuweisen. Nichts läßt auf einen Einbruch schließen, so daß davon ausgegangen wird, daß die alte Dame selbst ihrem Mörder die Tür geöffnet hat.
Ersten Autopsieberichten zufolge könnte sich die Leiche bereits seit Ende August in der Wohnung befinden. Vom Täter fehlt jede Spur.
Teil 1
Prolog
Sie wußte nicht, was sie geweckt hatte. War es ein Geräusch gewesen, ein böser Traum, oder spukten noch immer die Gedanken vom Vorabend in ihrem Kopf? Sie neigte dazu, Grübeln, Schmerz und Hoffnungslosigkeit mit in den Schlaf zu nehmen, und manchmal wurde sie davon wach, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Aber diesmal nicht. Ihre Augen waren trocken.
Sie war gegen elf Uhr ins Bett gegangen und sehr schwer eingeschlafen. Zu vieles war ihr im Kopf herumgegangen, sie hatte sich bedrückt gefühlt und war in die alte Angst vor der Zukunft verfallen, die sie nur für kurze Zeit überwunden geglaubt hatte. Das Gefühl, eingeengt und bedroht zu werden, hatte sich in ihr ausgebreitet. Für gewöhnlich hatte ihr das Haus am Meer stets Freiheit vermittelt, hatte sie leichter atmen lassen. Noch nie, wenn sie hier gewesen war, hatte sie sich nach der eleganten, aber immer etwas düsteren Pariser Stadtwohnung zurückgesehnt.
Zum erstenmal freute sie sich jetzt, daß der Sommer vorüber war.Es war Freitag, der 28. September. Am nächsten Tag würden sie und Bernadette aufbrechen und heim nach Paris fahren.
Der Gedanke an ihre kleine Tochter ließ sie im Bett hochschrecken. Vielleicht hatte Bernadette gerufen oder im Schlaf laut geredet. Bernadette träumte intensiv, wurde häufig wach und schrie nach ihrer Mutter. Oft fragte sie sich, ob das normal war bei einem vierjährigen Kind, oder ob sie die Kleine zu sehr belastete mit ihren dauernden Depressionen.
Natürlich plagten sie Schuldgefühle deswegen, aber sie vermochte es nicht wirklich zu ändern. Es blieb bei gelegentlichen Anläufen, sich selber aus dem Sumpf des Grübelns und der Verlorenheit zu ziehen, doch nie konnte sie einen anhaltenden Erfolg für sich verbuchen.
Außer im letzten Jahr… im letzten Sommer…
Sie sah auf den elektronischen Wecker, der neben ihrem Bett stand und dessen Zahlen intensiv grün in der Dunkelheit leuchteten. Es war kurz vor Mitternacht, sie konnte nur ganz kurz geschlafen haben. Wieder lauschte sie. Es war nichts zu hören. Wenn Bernadette nach ihr rief, dann tat sie das normalerweise ununterbrochen. Trotzdem würde sie aufstehen und nach ihrem Kind sehen.